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06.01.2020

Die Legende vom vierten König

Außer Caspar, Melchior und Balthasar war noch ein vierter König aus dem Morgenland aufgebrochen, um dem Stern zu folgen, der ihn zu dem göttlichen Kind führen sollte. Dieser vierte König hieß Coredan.

Drei wertvolle rote Edelsteine hatte er eingesteckt und mit den drei anderen Königen einen Treffpunkt vereinbart, um gemeinsam dem göttlichen Kind die Ehre zu erweisen. Doch Coredans Reittier lahmte unterwegs. Deshalb kam er nur langsam voran und als er bei der vereinbarten hohen Palme eintraf, war er allein. Nur eine kurze Botschaft, in den Stamm des Baumes eingeritzt, sagte ihm, dass die anderen drei ihn in Bethlehem erwarten würden.

Coredan ritt weiter, ganz in seinen Wunschträumen versunken. Plötzlich entdeckte er am Wegesrand ein Kind, das bitterlich weinte und aus etlichen Wunden blutete. Voll Mitleid nahm er das Kind auf sein Pferd und ritt in das Dorf zurück, durch das er zuletzt gekommen war. Dort traf er eine Frau, die das Kind in Pflege nahm. Aus seinem Gürtel zog er einen der drei Edelsteine, die für das göttliche Kind als Geschenk vorgesehen waren und steckte ihn der Frau zu, damit sie für das Kind sorgen konnte. Dann ritt er weiter, um seine Freunde zu treffen.

Mittlerweile hatte er den Stern und damit die Orientierung verloren. So fragte er sich bei den Menschen durch. Eines Tages erblickte er den Stern wieder, er eilte ihm nach und wurde von ihm durch eine Stadt geführt.

Dort traf er auf einen Trauerzug. Hinter dem Sarg schritt eine verzweifelte Frau mit ihren Kindern. Coredan merkte, dass es nicht allein die Trauer um den Toten war, die sie so niedergeschlagen erscheinen ließ. Er erfuhr, dass die Familie in Schulden geraten war, und dass die Frau mit den Kindern als Sklaven verkauft werden sollten. Coredan nahm den zweiten Edelstein aus seinem Gürtel und reichte ihn der Frau mit den Worten: „Bezahlt, was ihr schuldig seid, kauft euch Haus und Hof und Land, damit ihr eine Heimat habt!“

Darauf wendete er sein Pferd und wollte dem Stern entgegen reiten - doch dieser war erloschen. Tiefe Traurigkeit überfiel ihn und es quälten ihn Zweifel, ob er am Ende etwas falsch gemacht haben sollte. Längere Zeit plagten ihn diese Zweifel. Doch eines Tages leuchtete ihm der Stern wieder auf und führte ihn weiter durch ein fremdes Land, in dem gerade ein Krieg wütete. In einem Dorf hatten Soldaten gerade die Bauern zusammengetrieben und bereiteten alles vor, um sie zu töten. Die Frauen schrien und die Kinder wimmerten vor Angst.

Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit erfüllte Cordean zwar mit Wut, aber er war ratlos, wie er hier helfen könne. Zweifel trieben ihn um. Er besaß nur noch einen Edelstein. Sollte er denn mit leeren Händen vor dem König der Menschen erscheinen? Die Lage für die Männer und das kommende Elend für die Mütter mit ihren Kindern waren so überwältigend groß, dass er nicht lange zögerte und seinen letzten Edelstein hervorholte, um damit die Männer vom Tode, das Dorf vor der Verwüstung und die Frauen mit ihren Kindern vor der Sklaverei loszukaufen.

Müde, teils erleichtert, teils traurig, ritt Coredan weiter. Aber sein Stern leuchtete wieder nicht mehr. Jahrelang wanderte er, zuletzt zu Fuß, da er auch sein Pferd verschenkt hatte. Schließlich bettelte er selbst, half hier einem Schwachen, pflegte dort Kranke; keine Not blieb ihm fremd.

Eines Tages kam er im Hafen einer großen Stadt gerade dazu, als ein Vater seiner Familie entrissen und auf ein Sträflingsschiff, eine Galeere, verschleppt werden sollte. Coredan flehte für den armen Menschen und bot sich dann selbst an, anstelle des Unglücklichen als Galeerensklave zu arbeiten. Sein Stolz bäumte sich auf, als er in Ketten gelegt wurde. Jahre vergingen. Er vergaß, sie zu zählen. Grau war sein Haar, müde sein zerschundener Körper. Doch irgendwann leuchtete sein Stern wieder auf. Was er nie zu hoffen gewagt hatte, geschah. Man schenkte ihm die Freiheit, an einer fremden Küste wurde er an Land gelassen.

In dieser Nacht träumte er von dem Stern, der ihn lang geführt und dann wieder verlassen hatte, er träumte von seiner Jugend, als er aufgebrochen war, um den König aller Menschen zu finden. Eine Stimme rief ihn: „Eile, eile!“ Sofort brach er auf, er kam an die Tore einer großen Stadt. Aufgeregte Gruppen von Menschen zogen ihn mit, hinaus vor die Mauern. Angst schnürte ihm die Brust zusammen. Einen Hügel schritt er hinauf. Oben ragten drei Kreuze. Coredans Stern, der ihn einst zu dem Kind führen sollte, blieb über dem Kreuz in der Mitte stehen, leuchtete noch einmal auf und war dann erloschen. Ein Blitzstrahl warf den müden Greis zu Boden. „So muss ich also sterben“, flüsterte er in jäher Todesangst, „sterben, ohne dich gesehen zu haben? So bin ich umsonst durch die Städte und Dörfer gewandert wie ein Pilger, um dich zu finden, Herr?“ Seine Augen schlossen sich. Die Sinne schwanden ihm. Da aber traf ihn der Blick des Menschen am Kreuz, ein unsagbarer Blick der Liebe und Güte. Vom Kreuz herab sprach die Stimme: „Coredan, du hast mich getröstet, als ich jammerte und gerettet, als ich in Lebensgefahr war; du hast mich gekleidet, als ich nackt war!“ Ein Schrei durchbebte die Luft - der Mann am Kreuz neigte das Haupt und starb.

Coredan erkannte mit einem Mal: Dieser Mensch ist der König der Welt. Ihn habe ich gesucht in all den Jahren. Er hatte ihn nicht vergebens gesucht, er hatte ihn doch gefunden.


Diese Legende vom „vierten König“ geht wohl auf ein russisches Märchen zurück. Im deutschen Sprachraum ist die Fassung der Legende bekannt geworden, die der Schriftsteller Edzard Schaper 1961 in seinen Roman „Der vierte König“ eingebettet hat. Seit 1961 erschienen zahlreiche Adaptionen und Nacherzählungen.