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21.09.2020

Arm werden vor Gott

Es berührt mich immer tief, wenn ich in der Bergpredigt von der Armut vor Gott höre. Ich frage mich dabei, was diese Botschaft allen weltlichen Heilsversprechungen voraus hat.

Zumal ich keine profane Institution kenne, die von arm werden, sich zurücknehmen und klein machen spricht. Überlegungen dieser Art sind in der öffentlichen Diskussion kein Thema. Hier geht es vorwiegend um die Vermehrung von Gewinn und um ein Höchstmaß an Ansprüchen: Was steht mir zu, was nützt mir, was kann ich fordern, wie behaupte ich mich und so weiter.

Gott dagegen erwählt, was niedrig, arm und verachtet ist.

Aber wie soll ich zu den Niedrigen, Armen und Verachteten zählen können! Meint diese Maxime überhaupt mich? Ja, sie tut es. Aber in einer Welt des äußeren Wohlstands werde ich auf eine geistige Armut verwiesen. Ich muss lernen, Anrechte zurückzustellen und egozentrische Positionen zu verlassen. Es gilt, daran zu arbeiten, dass ich Verletzungen aushalte, Leid und Enttäuschung annehme, auf Vergeltung verzichte und vieles mehr. Dass das obendrein lautlos geschehen soll und ich weder mit Beachtung noch mit angemessener Würdigung rechnen darf, macht diese Vorgabe nicht leichter.

Ein erfahrener Psychotherapeut, der berufsbedingt um den Segen dieser Botschaft weiß, umreißt das in einer TV-Runde so:

MAN MUSS DAS RECHT, RECHT ZU HABEN, AUFGEBEN, AUCH WENN MAN DAS RECHT HAT, RECHT ZU HABEN.

Wie groß diese Einsicht! Wie deckungsgleich mit der Weisung der Bergpredigt! Aber wie schwer, wenn dieses Bemühen nicht vom Kraftfeld der Christusnachfolge gespeist wird!

Sicher ist, dass mein eigenes Maß an Menschlichkeit nicht ausreicht, um solchen Forderungen gerecht werden zu können. Aber ich kann meine schwachen Fähigkeiten nachrüsten, indem ich die Nähe zum Herrn suche und mich von seiner Kraft fluten lasse.

Mein Glaube weiß um diese Botschaft, aber er nötigt mich nicht, ihr zu folgen. Nur eine einzige Instanz kann über diesen Weg befinden: meine freie Entscheidung.

Das aber setzt voraus, dass ich mich auf Christus einlassen kann. In dem Maße, in dem sich meine Nähe zu ihm verdichtet, ist jede Verzichtleistung bereits rückversichert und in seinem Kreuz geborgen. So bin ich erlöst von der dumpfen Angst, zu kurz zu kommen oder ausgenutzt zu werden. Auch brauche ich mein Besserwissen, Rechthaben und Dagegenhalten nicht mehr bis zur Perfektion hochzustilisieren. Seinetwegen kann ich Ansprüche zurückstellen und Erfolge anderen überlassen. Mit ihm kann ich die Rolle des Verlierers annehmen, und zwar aus S t ä r k e , nicht aus Schwäche.

Freilich sind solche Pfade immer schmerzlich, mitunter auch sehr schmerzlich. Aber gerade deswegen handelt es sich hier um hochpreisige Verdienste, Verdienste auch für das Gemeinwohl, die wir Christen nicht zu verstecken brauchen.

Möge niemand behaupten, diese Glaubenshaltung sei ein Verlustgeschäft, hier kehre ich bloß unter den Teppich oder schlucke nur hinunter. Nein! Das widerlegen schon soziologische Studien, von denen wir wissen, dass durch die Disziplin des Ertragens beachtliche Kräfte zuwachsen, die uns in belastenden Lebensumständen zugute kommen (was mit Resilienz beschrieben wird). Leider fehlt solch blanken wissenschaftlichen Theorien der Humus, aus dem sie sich nähren könnten.

Mein Glaube aber weist mir die Spur: Wo Verzicht spirituell beheimatet ist, speist er sich unmittelbar aus Gott. So wird er zur Kostbarkeit, zum Schatz, der alle Theorien übersteigt, weil er in eine andere Dimension weist. Die angenommene Bürde w a n d e l t sich in eine andere Wertigkeit, in eine Qualität höchster Güte. Was für ein gewaltiger Sinnsprung! Mein Ja zum Kreuz wird schöpferisch.

Und, seien wir sicher, dass nicht nur Schmerz und Entsagung fruchtbar werden, sondern dass solche Wege auch innere Heilung bewirken, wobei dieses Heilsein eine wunderbare Eigenschaft hat: Es dehnt sich aus, ein ganzes Umfeld kann daran gesunden.


Autorin: Barbara Wurm, Kirchort Heiligste Dreifaltigkeit